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Inklusive Einschulung von Anton

(Alle Namen wurden geändert)

Liebe Freunde und Bekannte,
am 3. April dieses Jahr habe ich eine Mail verschickt, die zum primären Ziel hatte, innerhalb von 4 Tagen so viele Unterschriften zu sammeln wie möglich, um die inklusive Einschulung von Anton in der Schule seines Viertels in Tübingen zu unterstützen.

Vielen Dank an Euch für die vielen Stimmen, die zusammen gekommen sind. Es waren insgesamt über 300 – einfach toll!

Als erstes die gute Nachricht: das Schulamt hat den inklusiven Weg in der von den Eltern gewünschten Schule doch und gegen jede Prognose zugestimmt. An dieser Stelle ein herzlichen Glückwunsch an die Eltern, Ihre Hartnäckigkeit hat sich bezahlt gemacht. Und auch ein großes Lob an das Schulamt, es war eine sehr positive Überraschung und zeigt den Wille und die Offenheit des Schulamts Tübingen in Sachen Inklusion.

Ich bin selber überglücklich mit dem Ergebnis, denn mir ist dieser Fall sehr nah gegangen, und zwar nicht aus Prinzip, sondern eher aus persönlicher Betroffenheit: aufgrund meiner persönlichen Beziehung zu der Familie, weil wir uns lange kennen und weil wir einen großen Teil des Weges Richtung Inklusive Beschulung gemacht haben. Und zwar den unsichtbaren Weg, der sehr früh und mit großen Fragezeichen anfängt, und begleitet von dem Wissen wird, dass die Umsetzung von Inklusion noch keine Selbstverständlichkeit ist. Dass Politik, Behörden und Menschen noch einen langen weg vor sich haben, bis unsere Gesellschaft sich einigermaßen inklusiv nennen kann. Mir war sicherlich der Fall auch so wichtig, weil ich diesen Weg für Mikel nicht weitergehen konnte, und das mich einerseits entlastet, andererseits frustriert hat. Schöner wäre es gewesen, wenn die Selbsverständlichkeit da wäre, dass Mikel in die Schule gegenüber geht, aber die notwendigen Voraussetzungen sind heutzutage einfach noch nicht gegeben.

Nach der Enttäuschung am Tag der Anmeldung von Anton organisierten die Eltern eine Unterschriftenaktion, die ich dann mit meiner Mail am 3. April unbedingt  unterstützen wollte: „Wenigstens für Anton muss es doch mit ‚richtiger‘ Inklusion klappen!“ – so mein Gedanke. Das ganze unter Zeitdruck, denn es war nicht mehr lange bis zum Runden Tisch zwischen Familie und Schulamt. So flossen Enttäuschung, Empörung, Frust und Wut über die aktuellen Umstände rund um Inklusion und konkret rund um diesen Fall in meiner Mail, was zu einem sehr harten Angriff auf Herrn Müller wurde (Rektor unserer Schule), den Herr Müller so definitiv nicht verdient hat. Mit dieser Mail möchte ich mich aufrecht und in aller Öffentlichkeit für den sehr scharfen Ton meiner Mail bei Herrn Müller entschuldigen. Herr Müller wird als Mensch und Rektor unserer Schule sehr geschätzt, und das soll erhalten bleiben. Auch bei den Menschen, welchen die überspitzte Formulierungen in meiner Mail so sehr betroffen hat, dass sie ihre Meinung über Herr Müller zum Negativen geändert haben sollen, möchte ich mich hier ebenso entschuldigen. Das war definitiv nicht das Ziel und auch nicht die Absicht meiner Nachricht. (Die Mail ist ganz unten zu sehen)

Herr Müller und ich haben uns vor einigen Tagen ausgesprochen in einem harten aber sehr ehrlichen Gespräch. Es gab Einsicht und Bedauern von beiden Seiten, jeder von uns hat Fehler offen gestanden und wir haben uns gegenseitig entschuldigt. Und natürlich haben wir auch über Inklusion generell unterhalten und unsere Ansichten ausgetauscht.
Nun, wie habe ich es denn mit meiner Mail gemeint? Das möchte ich als nächstes darstellen.

Mit meiner Mail hatte ich hauptsächlich 2 Ziele:
1- Unterschriften für den Fall „Anton“ sammeln
2- Das öffenliche Bewusstsein dafür wecken, dass es mit Inklusion nicht so einfach läuft, und obwohl geregelt durch Gesetze, weder die Mittel noch die entsprechende Einstellung der Menschen, die es Umsetzen müssen, noch lange nicht ausreicht.

Was braucht die Gesellschaft, um inklusiv zu werden?
1- Gesetze, die regeln –> Politische Ebene
2- Menschen, die umsetzen –> Menschliche, emotionale Ebene

Manche denken, dass Nr. 1 eher am Wichtigsten ist. Andere denken, Nr. 2 ist viel wichtiger. Ohne auf Nr. 1 verzichten zu wollen, gehöre ich zur zweiten Gruppe. Denn:

  • Gesetze bewirken gar nichts, wenn die Menschen nicht überzeugt mitgehen und nicht offen dafür sind, neue Wege zu beschreiten. Die Umsetzung bleibt aus oder wird „mager“.
  • Menschenwille braucht wiederum keine Gesetze, um Willen in Taten umzusetzen, allerdings kann nur mit Wille und Offenheit keine langfristige Lösung aufrechterhalten werden: ohne Gesetze und Ressourcen, gehen Wille und Offenheit irgendwann aus Erschöpfung unter.

Es gibt einen offiziellen Verlauf in Tübingen, um ein Kind inklusiv einzuschulen. Zusammengefasst:

  • Das Schulamt entscheidet, wo und mit welcher Unterstützung das Kind eingeschult wird.
  • Es geht mit einem Antrag in Januar los.Erst in April/Mai erfahren die Eltern, wie das Schulamt entschieden hat, 4 Monate vor Einschulung.
  • Bevorzugen die Eltern eine andere Lösung (z.B. eine Inklusion in der Schule ihrer Nähe), gehen Eltern und Schulamt in Verhandlung. Falls beide auf ihre Position beharren, geht es Richtung Widerspruch beim Regierungspräsidium, und wenn das auch nicht klappt, geht es Richtung Gericht.


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Das Schulamt in Tübingen versucht, Schwerpunktgruppen zu Bilden und diese in bestimmten Schulen unterzubringen. Dabei versuchen sie, Ressourcen zu binden, um diese effizient einzusetzen. Anders gesagt: Sie kreieren neue, größere Schubladen, die für die meisten Familien eine ganz gute Lösung darstellen, z.B. für uns. Ein ganz guter Ansatz, nur dass es nach wie vor Fälle gibt, die auch nicht in diese neuen Schubladen passen. Schulen und Schulamt sind miteinander in Dialog, aber das Schulamt entscheidet letztendlich, wie ein Kind mit Förderbedarf eingeschult wird und mit welcher sonderpädagogischen Unterstützung, nicht die Eltern, so gibt das das aktuelle Gesetz vor.

Der offizielle Weg sieht meiner Ansicht nach nicht vor, dass Eltern und Schulen groß miteinander sprechen, bevor die Entscheidung gefallen ist. 

Wie erleben das die Eltern?

Wenn Schulamt und Eltern sich nicht einigen können, müssen diese Fälle sich die Inklusion über den rechtlichen Weg erkämpfen, und zwar in sehr kurzer Zeit. Der Druck und die Unsicherheit bei den Eltern ist groß.

  • Eltern fangen spätestens 1 Jahr vor Einschulung an, sich stark Gedanken über die Einschulung ihres Kindes zu machen. Möglicherweise wird das Kind zurückgestellt, das schenkt dem Kind ein weiteres Jahr in der Kita, und uns Eltern noch ein Jahr im Gedankenkarrusell
  • Wenn man den Inklusions-Ratgebern glaubt, wird aus Erfahrung dringend empfohlen, bereits mindestens 1 Jahr vor der tatsächlichen Einschulung auf die gewünschte Schule bzw. auf Schulsuche zu gehen. Das bedeutet: Kontakt mit dem Menschen, die die Inklusion des Kindes umsetzen müssen: Gegenseitiges Kennenlernen, Kind vorstellen, Vorstellungen über konkrete Inklusionsumsetzung austauschen, Informationen und Ideen sammeln/teilen,… nicht selten haben die Eltern mittlerweile um einiges mehr Ahnung über Inklusion als die Schule und sie sind sowieso die Experten für das Kind. Ein Wissen, dass die Schule für die Inklusion des Kindes gut gebrauchen kann.

Die Familien nehmen dafür als Anlaufstelle den Schulrektor, mit der Erwartungshaltung, sich mit ihm „außerbehördlich“ zu unterhalten, die Schule für den Inklusionsfall zu gewinnen und -so die Hoffnung- sich sogar eine aktive Unterstützung der Schule für Verhandlungen mit dem Schulamt einzuholen. 

Herr Müller ist hat sich nie explizit geweigert, mit uns zu sprechen, er hat uns aber leider auch nicht mit der Offenheit und Sensibilität empfangen, die wir uns gewünscht hätten. Zweimal innerhalb von 1,5 Jahren haben ich und eine andere Mutter nach einem Elternabend in der Schule eine erste Kontaktaufnahme mit Herrn Müller versucht. Wenn uns diese Kontaktaufnahme gelungen hätte, hätten wir mit Herrn Müller über die Möglichkeit sprechen wollen, eine Inklusionsgruppe in der Schule auf die Beine zu stellen. Denn 2 Kinder hatten wir schon, ein drittes war im Gespräch, und mit 4 Kinder hätte man Budget genug, um einen Sonderpädagogen zu 100% zu bekommen, so waren unsere Informationen (Über die Gruppenbilungsstrategien des Schulamts wussten wir noch gar nichts).

Zu einem solchen Gespräch kam es aber leider gar nicht. Beide male ist der Kontaktaufnahmeversuch sozusagen in die Hose gegangen. Wir haben uns regelrecht abgelehnt gefühlt, als stünden wir vor geschlossenen Türen. Die kurzen Unterhaltungen liefen so unschön, dass nicht mal der Vorschlag kam, einen Termin zu vereinbaren, um das Thema in aller Ruhe zu besprechen. Übrigens von keiner der beiden Seiten, wir waren einfach sehr aufgebracht,… so menschelt es manchmal 🙂 

Auf weitere Details muss man nicht eingehen. Wichtig ist, dass Herr Müller und ich darüber gesprochen haben, es gut klären konnten und ich denke, dass Herr Müller in zukünftigen ähnlichen Situationen anderes agieren wird. Von meiner Seite kann ich sagen, dass in Zukunft fest versuchen werde, einen kühlen Kopf zu bewahren, sowohl bei Kontaktaufnahmen, als auch beim Mails schreiben.

Es gibt viele Gründe, die für Inklusion sprechen. Die Gründe dagegen, sind in meinen Augen meistens jedoch keine echte Gründe, sondern Hindernisse, die es zu bewältigen gilt. Es geht aber auch sehr oft um Prioritäten auf politischer Ebene, die sehr oft mit Geld zu tun haben. Die Veränderungen für Inklusion in der Gesellschaft gehen sehr tief, gesetzlich wie menschlich, und werden nicht von heute auf morgen und auch nicht von heute auf 10 Jahren zu 100% erfolgen. Ich sehe da aber keinen Grund, sich nicht mit Offenheit auf dem Weg zu machen, auch wenn die Voraussetzungen noch nicht perfekt sind, denn wir erziehen unsere Kinder auch von Tag zu Tag, obwohl wir wissen, dass die Kindererziehung viele Jahre dauert und die Bedingungen auch nicht immer optimal sind. 

Ich danke Euch allen für das Lesen meiner langen Mails!

Yolanda Cubas

Ursprüngliche Mail

On Wed, Apr 3, 2019 at 12:27 PM Yolanda Cubas <yolanda.cubas@gmail.com> wrote:

Hallo Leute,

Letzten Freitag war endlich Anmeldung für die Einschulung 2019. Der Rektor unserer Schule im Viertel verweigerte die Aufnahme von Anton in die Schule. Aus dem Schubladenprinzip, aufgrund seiner Behinderung und ohne darüber sprechen wollen, ohne zu wissen oder sich erkundigen wollen, ob und was für eine Unterstützung er bräuchte und ihm auch zustehen würde. 

Obwohl die Rechtlage klar ist, ist mit der Inklusion heute leider so, dass die Menschen, die es umsetzen müssen, Widerstand leisten. Im Falle von Anton kommt dieser Widerstand wie eine Blockierung an, ein „Stop, Du gehörst nicht hierher, außer Dich begleitet ein Sonderpädagoge zu 100% und die Schule sonst nicht viel damit zu tun hat, denn wir sind nicht darauf ausgebildet und ich an meine Lehrer denken muss“. Lapidar, ohne sich an einem Tisch mit den Beteiligten sich hinsetzen zu wollen, um konstruktiv darüber zu reden, wie eine Inklusion für Anton aussehen könnte, was er tatsächlich braucht. Die Geduld, Nerven und Kraft der Eltern werden auf Probe gestellt. Es wird ein Spiel auf Zeit und Ausdauer.

Uns fehlt die Kraft, uns unter so schlechten Ausgangsbedingungen auf einen solchen Kampf einzulassen. Außerdem ist unsere Schule eine große Schule, in der Mikel sicherlich überfordert wäre. Dazu braucht er noch viel intensive Betreuung. Wir haben uns daher vor einigen Wochen Monaten für eine andere Form der Beschulung für Mikel entschieden: in eine kleine Schule, wo Kinder mit Förderbedarf willkommden sind und viel Erfahrung damit vorhanden ist. Es handelt sich um eine langjährige Kooperation zwischen der Sonderschule und eine Grundschule. Wichtig war es uns, dass Mikel in Kontakt mit Kindern  mit und ohne Behinderung in seinem Alltag bleibt. Darum wollen wir ihn nicht in die Sonderschule schicken. Im Kauf müssen wir nehmen, dass Mikel in ein anderes Viertel eingeschult wird, offiziell ein Schüler der Sonderschule sein wird und daher unter anderen an den AGs der Schule nicht teilnehmen darf oder keinen Tag Nachmittagschule hat (das ist nicht unbedingt schlecht :-). Und selbst diese Lösung ist noch nicht entschieden, denn es ist noch unklar, wie soll es mit dem Wickeln gehen oder wer die Betreuung von Mikel außerhalb der schulischen Stunden z.B. beim Mittagessen mit seinen Mitschülern übernimmt, denn die Kooperation endet vielleicht um 12.15 mit dem Unterricht…

Wie auch immer, es geht um Anton, um bei ihm soll es anders sein: Inklusiv eben, worauf er auch einen Rechtanspruch hat. Anton bringt ganz andere Voraussetzungen als Mikel: er spricht sehr gut 2 Sprachen, hat ein ausgeprägtes Sozialleben mit seinen Freunden der Kita und Viertel und ist sehr selbständig: er geht oder fährt seit Monaten allein von daheim in die Kita! Das sind ca. 300 m über mehrere Strassen inkl. Ampeln; er zieht sich schon lange an und aus selbständig, braucht keine Hilfe beim Essen und hat keine pflegerische Aufwände. Darüber hinaus ist er sich schon sehr lange sehr bewusst über die Schule und freut sich, mit seinen Freunden der Kita in die Schule zu gehen, wo auch seine Geschwister hingegangen sind. Es sind beste Voraussetzungen, damit unsere Schule sich in sanfster Weise Richtung Inklusion bewegt 🙂

Daher leite ich Euch die Mail von Anton Elterns weiter und hoffe, dass ihr das Formular ausfüllt (es sind 2 Fragen)

Gerne könnt ihr diese Mail an weitere Menschen weiterleiten.

Gruss, Yolanda